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Lacrimor“

 

I

 

    Die Perle Lacrimor wurde in den tiefsten Tiefen des Ozeans geboren, im Laufe aller Zeiten, die jemals menschliche Wesen auf der Erde gelebt haben. Sie ist die seltsamste und wertvollste, die magischste und – wenn man so will – die böseste Perle, die je ins Dasein getreten ist. Ins Dasein des kalten, salzigen, dunkelsten und tiefsten Ozeans. Sie ist Amalgam aus allen Tränen, die jemals von Menschen geweint wurden. Entstanden aus Tränen der Verzweiflung, Tränen der Trauer, Tränen der Hoffnungslosigkeit, Tränen der Demütigung, Tränen der Scham und Reue, aus allen Tränen, die jemals in das Meer der Trostlosigkeit geflossen sind.

 

Sie ist außergewöhnlich groß und schwer und von einem mattgrauen, irisierenden, hypnotischen Glanz. Befreit man sie aus dem Gefäß, in dem sie grade aufgrund ihrer Eigenschaft verwahrt ist, so ändert sie ihre Struktur und wird flüssig wie zähes Wachs und will umherfließen wie Quecksilber, verharrt aber zitternd auf der Stelle, den Blick des Beobachters täuschend, als sei sie tatsächlich ein lebendes Wesen. Ohne Mühe jedoch läßt sie sich wieder einfangen und in ihre Phiole gleiten, wo sie wieder erstarrt, zu einer Perle von beunruhigender Schönheit.

 

Wie sie in den Besitz des Geschlechtes deren von Meinertshagen gelangt ist, weiß heute niemand mehr genau zu sagen, aber Graf Konrad bewahrt sie in seiner sichersten Schatulle. Er kennt ihr Geheimnis, ihre Macht.

 

 

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Einmal im Jahr gab Graf Konrad ein großes Fest in seinem Schloß, zu dem alle seine Freunde sowie die Spitzen der Gesellschaft, die Schönen, die Reichen und die Einflußreichen, die Mächtigen, die Gebildeten und die Weisen, die Illustren und die Berühmten, die Vielgeliebten und die viel Gelobten und alles was Rang und Namen hat eingeladen wurden. Und sie folgten seiner Einladung.

 

Dieses Mal war auch sein bester Freund aus Kindertagen, Graf Jaromir, der längere Zeit im Ausland verbracht und deshalb Graf Konrads jährliche Feste nicht besucht hatte anwesend. Die Wiedersehensfreude war groß und nachdem er seinen Freund allen anderen Gästen vorgestellt hatte und das festliche Diner verspeist war, als der ausgelassene Tanz der Gäste seinen Höhepunkt erreicht hatte, nahm Graf Konrad seinen Freund beiseite, führte ihn in sein kleines privates Büro innerhalb seiner Privatgemächer und sagte: „Mein lieber Freund, da wir uns heute endlich nach so langer Zeit wiedersehen, möchte ich Dir unbedingt meinen kostbarsten und wertvollsten Besitz zeigen. Ich glaube, ich habe Dir bis jetzt nicht einmal davon erzählt. Genau genommen habe ich noch niemals jemandem davon erzählt. Ganz genau genommen weiß überhaupt niemand außer unserer Familie, derer von Meinertshagen, von der Existenz dieses Wunderwerkes - oder soll ich sagen: dieser ‚Laune’ - der Natur.“ Und er nahm einen kleinen Schlüssel an einer goldenen Kette aus seiner Rocktasche und ging, das kleine, reichverzierte Eckschränkchen aufzuschließen, in dem die Schatulle, in der die Phiole mit der Perle Lacrimor schlummerte, verwahrt war.

 

Der Freund staunte nicht schlecht ob so vieler Sicherheitsmaßnahmen und   wollte schon eine kleine spöttische Bemerkung machen, aber der ernste Gesichtsausdruck Graf Konrads ließ ihn seine Worte rasch verschlucken. Gespannt trat er hinter seinen Freund und schaute über dessen Schulter, als der das Kästchen öffnete und ihm eine überaus kunstvoll und kostbar mit Silber und Bersteinschnitzereien verzierte Phiole entnahm. Er folgte dem Freund zu einem kleinen Sekretär in der Nähe der Tür zum Tanzsaal und verfolgte jede seiner Bewegungen als dieser den Verschluß der Phiole löste und ihren Inhalt auf ein lackiertes chinesisches Tablett gleiten ließ. Graf Konrad schaute zu seinem Freund auf, ohne den Kopf zu heben: „Dies ist die Perle Lacrimor und Du wirst ihre Eigenart gleich erkennen.“ Graf Jaromir sah, wie eine Perle von außergewöhnlicher Größe und Schönheit aus der Phiole rollte, um nach zwei, drei Sekunden ihre feste Form aufzugeben und sich auf dem chinesischen Tablett in wirren Windungen hin- und herzubewegen, als würde sie lebendig und einem eigenem Willen, jedoch ohne Entschlußkraft, folgen. Gebannt starrte er auf das Tablett. Und dann war es, als würde sein Blick von der Perle aufgesogen und mit ihm gleichzeitig sein Geist und seine ganze Persönlichkeit aus seinem Schädel gezerrt. Er prallte zurück, sein Kopf drohte zu zerspringen und der Atem stockte ihm. Sein Haar sträubte sich, ja jedes einzelne seiner Körperhaare richtete sich wie unter einer starken elektrischen Spannung auf und ihm war, als müsse er schreien. Aber nur ein winselnder Klagelaut entrang sich seiner Brust. Im nächsten Moment schien die Welt um ihn auseinanderzubrechen und ihr ganzes Leid und ihr ganzes Elend über ihn auszuschütten. Schwindel packte ihn und zwang ihn in  die Knie, laut aufschluchzend sank er zu Boden, ohne zuerst zu wissen, was es war, das ihn so fühlen ließ, bis ihn plötzlich die Erinnerungen überfluteten, eine Erinnerung für jede Verletzung, die ihm jemals in seinem Leben zugefügt worden war und die er jemals einem anderen Menschen zugefügt hatte, die Erinnerung an jedes Leid, von dem er je gehört oder gelesen hatte, daß es einem anderen zugestoßen sei und an jeden Schmerz, den er sich selbst, sei es auch nur aus Übermut und Selbstüberschätzung, zugezogen hatte. Zu viele Bilder, um sie auseinanderzuhalten, drängten sich aus der Vergangenheit in seine Gedanken. Da war der Fetzen einer Erinnerung an einen Sturz vom Pferd, bei dem ein Bein brach, der sich vermischte mit dem Bild seines toten Vaters. Der Verrat eines Geschäftspartners und die Demütigung durch einen politischen Gegner waren durchdrungen vom Verlust einer Liebsten. Das zerbrochene Spielzeug des Kindes Jaromir und eine beleidigende Bemerkung vom gestrigen Tag waren eins. Sein ganzer Körper schmerzte. Aber noch viel mehr schmerzte seine Seele. Jede Zuversicht und jeder Gedanke an eine mögliche Zukunft waren ausgelöscht. Es gab keine Möglichkeit mehr, auf irgendeine Art oder Weise weiterzuleben. Alle Pläne waren hinfällig und obsolet. Jeder Wunsch gestorben. Kein Gefühl, das nicht Schmerz und Verzweiflung war, je gefühlt worden. Das Herz war ihm aus der Brust gerissen, seine Rippen ein staubiger, hohler Käfig. Tränen stürzten aus seinen Augen und Schluchzen drang aus seiner Kehle, aber es brachte ihm keine Erleichterung. In seinen Ohren dröhnte es. Mühsam richtete er seinen Blick auf seinen Freund. Er konnte ihn kaum erkennen. Das Gesicht des Grafen schien ihm verzerrt zu etwas wie einer wölfisch grinsenden Fratze, in der sich Faszination, Abscheu und Hohn mit absurdem Mitleid zu einer abstoßenden Wollust vereinten. Und doch war Graf Konrad der einzige, der seinen Freund aus dieser Hölle der Verzweiflung zu retten in der Lage war. Er streckte seine Hand nach Jaromir aus. In dem Moment, da er ihn berührte, ließ die Wirkung der Perle auf Graf Jaromir nach. Die Hand Graf Konrads übertrug dessen Resistenz gegen die Wirkung der Perle auch auf seinen Freund. Jaromir konnte sich, immer noch um Atem ringend, aufrecht hinsetzen, er war jedoch wie betäubt. Das verzerrte Grinsen auf Graf Konrads Gesicht verblaßte nicht. Seine Augen leuchteten nach wie vor in irrer Wollust. Zu Jaromirs Verzweiflung gesellte sich Furcht vor seinem Freund, den er nie zuvor auch nur in einem ähnlichen Zustand gesehen hatte.

 

Was ist das?“ konnte Jaromir röcheln. „Das ist die Lacrimor“ flüsterte Konrad, „Schau!“ ...

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© Bettina Berger